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Unabhängig davon, dass man in jedes meiner Bücher einen kostenlosen Blick werfen kann, möchte ich hier mal eine meiner neueren Kurzgeschichten präsentieren. Je nach Feedback werde ich diese Seite ergänzen. Die von mir angegebene Lesezeit ist natürlich individuell, da jeder Mensch sein eigenes Lesetempo hat. Bei Lesungen passe ich mein Tempo auch an die Dramatik einer Szene an.


Siehst du die Blätter fallen?
Orange und braun. Goldgelb und rot.
Ein Farbenrausch … weich und still.
Schau in den Garten, geh in den Park, durchwandre die Stadt … und sag mir die Zahl aller Blätter … weltweit!

Siehst du den Schnee herniederschweben?
Flocken so filigran und leicht … lautlos … weißer Feenstaub.
Blick in den Garten, lauf in den Park, durchstreife die Stadt … und nenn mir die Zahl aller Flocken … weltweit!

Siehst du die Pollen fliegen?
Samen so winzig und fein … zierliche Boten des Lebens.
Folge ihrem Flug im Garten, im Park, in der Stadt … und verrate mir, wie viele es sind …
weltweit!

Spürst du den Sand unter deinen Füßen?
Knie nieder und greife mit beiden Händen hinein … sanfte Winzlinge streicheln deine Haut.
Geh über den Strand, folge den Dünen, lausche dem Rieseln der Körner …
in allen Wüsten dieser Welt!

Hast du sie gesehen … die Blätter, die Flocken, die Pollen und den Sand?
Und kannst du mir sagen, wie viele es gibt?

Jetzt harre der Nacht, verlasse die Stadt, geh weit ins Land hinaus.
Und dann sieh in den Himmel!

Siehst du die Sterne?
Funkelnd und strahlend … ferne Boten des Lebens.
Und siehst du die Galaxien, die Sternenhaufen?
Milliarden, Billiarden, Trilliarden … Myriaden.
Kannst du sie sehen?

Das, was du nicht sehen kannst, sind die ungezählten Welten,
die sie beleuchten, ihnen Leben spenden.

Wir sind nicht allein.
Wir. Sind. Nicht. Allein.
Wir sind nicht allein!

© Copyright 2021 by Werner Karl


Hier mein Manuskript zum BMBF-Workshop "Alles nur Science-Fiction?"




 
Die Nonne

(mittlere Lesezeit ca. 18 min.)

Der Gedanke kroch so unaufhaltsam aus den Tiefen ihrer Seele wie der allmorgendliche Nebel aus den Wäldern und Wiesen rund um das kleine Kloster.

Ich muss dem endlich ein Ende setzen!, dachte die Nonne und zog die Ränder ihrer Kapuze enger um den Hals. Dennoch biss sie die Kälte in Gesicht und Hände, als sie den Innenhof mit raschen Schritten überquerte.

Schon bei ihrer Ankunft vor einigen Monaten hatte sie die düstere Stimmung gespürt, die wie ein bleiernes Tuch auf den wenigen Gebäuden lastete und auch Mensch und Tier gleichermaßen niederzudrücken schien. Es hatte lange gedauert, bis sie es gewagt hatte, die alte Äbtissin ohne Umschweife nach der Ursache zu fragen. Und zu ihrer Überraschung hatte die ihr fast sofort geantwortet. Der Nonne war es damals vorgekommen, als wolle sich die greise und über das Maß erschöpft wirkende Leiterin des Klosters ihre Sorgen von der Seele reden.

Sich mir anzuvertrauen, hat sie aber nicht gerettet …

Mit Grauen sah die Nonne noch immer die Äbtissin wie einen traurigen Engel in deren Kammer schweben. Stumm, kreidebleich … und mit einem Seil um den Hals am einzigen Balken hängend, der in dem Raum die Decke stützte.

Sie hat dem Bösen nicht länger Widerstand leisten können … oder wollen. Ich bin erst kurze Zeit hier und fühle die Macht der Finsternis alles und jeden umlauern. Sie muss fast ihr ganzes Leben lang dagegen angekämpft haben. Das Böse …

Die Worte der Äbtissin berührten sie noch in der Erinnerung wie klamme Finger, die langsam über ihre Haut strichen und sie mit fröstelndem Schauern überfluteten.

»Das Böse, mein Kind, ist unter unseren Füßen eingesperrt«, hatte sie das Gespräch schleppend begonnen gehabt. »Ein längst vergessener Papst und der erste Vogt der benachbarten Burg hatten einst unserer kleinen Gemeinschaft diese Bürde auferlegt. Wir sind die Wächterinnen. Wir sind der Schutzschild für das Volk. Meine Vorgängerinnen, ebenso wie ich … und nun du. Kein Ritter, kein Heer konnte und kann das Böse vernichten. Es für alle Zeit einzuschließen, ist die einzige Chance, auf die wir hoffen dürfen.«

Dann hatte sie die Nonne gebeten, sich niederzuknien und ihr anschließend aus einem kleinen Becken ein paar Tropfen auf Stirn und Mund geträufelt, dabei das heilige Kreuz mit Fingern in die Luft gezeichnet. Mit bedächtigen, ja, ehrfürchtigen Bewegungen, hatte sie ihr eine kleine gläserne Flasche überreicht, in der eine klare Flüssigkeit schwappte. Auf ihre Frage hin, was das sei, hatte die Äbtissin nur schmerzlich gelächelt und ihr zugeflüstert.

»Ich bin alt und schwach. Dies zu sammeln, hat Generationen gedauert. Ich habe nicht mehr die Kraft, den letzten Schritt zu tun. Nimm es! Trage es immer bei dir! Und wenn die Zeit gekommen ist, wirst du wissen, was du damit zu machen hast. Du wirst den Sieg erringen, zu dem ich nicht mehr in der Lage bin.«

Die Nonne hatte geschluckt und die Flasche entgegengenommen. Dass der Äbtissin der baldige Tod schon in diesem Augenblick bewusst gewesen sein musste, hatte sie damals sehr betroffen gemacht. Dennoch hätte sie nie den Weg vermutet, den diese dann wirklich gegangen war.

Entweder hat sie diese Hoffnung letzte Nacht verlassen … oder sie hatte einfach nicht mehr die Stärke, dem zu widerstehen, was dort unten lauert.

Ihren Fragen nach der Natur dieser Bedrohung war die Äbtissin jedoch ausgewichen. Die Nonne hatte den Eindruck gewonnen, dass die Leiterin des namenlosen Klosters wohl befürchtet hatte, dass selbst die Beschreibung des Dämons – denn um nichts anderes als das konnte es sich ihrer Meinung nach handeln – diesen zu tödlichem Tun provozieren könnte.

Ich habe aber nicht vor, dem Beispiel der Äbtissin zu folgen! Wie viele Jahrhunderte sollen Frauen noch Wächterinnen sein … und daran zugrunde gehen?

In einem kurzen Anflug von Schwäche hatte sie seinerzeit mit dem Gedanken gespielt, das Kloster einfach zu verlassen, einen anderen Ort zu finden, an dem sie dem Herrn dienen könnte. Doch dann war ihr klar geworden, dass sie sich ihr Leben lang schuldig fühlen würde. Schuldig, ihre Schwestern im Glauben im Stich gelassen, dem Bösen keinen Widerstand geleistet und es nicht im Zaum gehalten zu haben.

Aber einfach nur Wacht zu halten und auf den eigenen Tod zu warten, kann ich nicht. Ich muss dem ein Ende setzen!, wiederholte sie – fast wie ein Gebet – ihren Entschluss. Lieber sterbe ich im Kampf, als dass ich so ende ... oder die Aufgabe einer Glaubensschwester auferlege!

Sie hob ihre rechte Hand und fasste an die Klinke der Tür, welche den Eingang zur Krypta bildete. Die eisige Kälte des Metalls machte ihr auf schmerzhafte Weise klar, welches Wagnis sie auf sich nahm. Als würde alle Bosheit der vergangenen Jahrhunderte sich in diesem Eisen als letzte Warnung konzentrieren, drang der Frost wie ein Vorbote des Todes durch ihre Finger bis in ihre steifen Armmuskeln. Doch dann drückte die Nonne entschlossen die Klinke nieder und trat rasch in den Vorraum der Krypta. Eilig schloss sie die Tür. Nur durch ein paar schmale Lücken im Gemäuer drang graues Dämmerlicht in die Kammer.

Niemand darf mir folgen. Wenn ich versage, soll es allein mein Ende sein. Möge Gott dann eine fähigere Nonne entsenden.

Als würde ihr dieser Gedanke neue Kraft und Zuversicht verleihen, trat sie an die Wand, fasste dabei in eine verborgene Falte ihres Gewandes und entzündete geschickt mit Zunderschwamm und Schlagstein die Fackel, die dort in einer eisernen Fassung steckte. Auch das Licht der aufzüngelnden Flammen erschien ihr wie ein Verbündeter.

»Lux et umbra … aeternum certamen«, flüsterte sie ergriffen. Licht und Schatten … im ewigen Kampf, wiederholte sie die lateinischen Worte stumm auf Deutsch.

Die Nonne hielt die Fackel weit über ihren Kopf, um den kleinen Vorraum gänzlich zu beleuchten. Sie hätte die Stufen auch bei schlechterem Licht gefunden. Denn sie waren die einzige Unterbrechung, beziehungsweise bauliche Struktur, welche die Kammer besaß. Aber den finsteren Raum zu erhellen, kam ihr wie ein erster kleiner Sieg vor.

Die Äbtissin hätte mich niemals alleine hierherkommen lassen. Nun ist sie tot. Und die anderen Schwestern ahnen nicht, dass ich hier bin. Vielleicht hegen sie einen Verdacht, wenn sie die Äbtissin in Kürze finden. Doch mir zu folgen, werden sie nicht wagen. Ich bin allein. Und bleibe allein.

Sie atmete tief ein, füllte ihre Lungen mit feuchter Morgenluft und schritt dann langsam Stufe um Stufe die gewundene Treppe hinab. Die Fackel brannte ruhig. Kein Luftzug bedrohte die kleinen Flammen, die sich dennoch zusammenzogen, je tiefer sie kam. Auch die Wände rückten scheinbar näher, zwangen sie, sich mit einer Hand davon zu überzeugen, dass dem in Wahrheit nicht so war. Trotzdem war die Nonne froh, als die Treppe endete und sie in einen Raum gelangte, dessen Decke sich nur eine Handbreit über ihrer Kapuze befand. Sie blieb stehen und erfasste die Gegenstände, die in engen Abständen sich auf beiden Seiten des Raumes bis in Bereiche erstreckten, die ihr Licht nur noch andeutungsweise aus dem Dunkel befreien konnte.

Steinerne Särge ruhten auf niedrigen Sockeln auf dem Boden, dessen Mitte eine abgewetzte Spur aufwies. Die Särge selbst ähnelten sich in Form und Größe. Einfach, schmucklos, selten mit Gravierungen versehen, welche die Nonne von ihrem Standpunkt aus nur vage erkennen konnte. Einem inneren Impuls folgend, schritt sie auf den ersten Behälter zu und musterte dessen Inschrift auf dem Sargdeckel.

»Elsbeth von Lauenstein.« Der Name sagte ihr nichts. Sie schritt zum nächsten. »Kunigundt.« Kein Namenszusatz. Auf dem Dritten stand Margarathea. Sonst nichts. Die Nonne ging von Sarg zu Sarg, folgte unbewusst der Reihe nur auf einer Seite des Raumes, der sich mehr und mehr als ein sich ewig erstreckender Gang entpuppte, an dessen Seiten ein Steinquader auf den anderen folgte.

Hier müssen Hunderte Tote liegen. Bislang las ich nur weibliche Namen. Eine Äbtissin nach der anderen. Dann schalt sie sich selbst. Das ist nicht belegt. Warum sollten nur die Leiterinnen des Klosters die Last getragen haben? Hier müssen auch einfache Schwestern bestattet sein. Ich selbst wage mich ja auch hierher und bin keine Äbtissin.

In diesem Moment fielen ihr die drei Worte ein, welche die Verstorbene scheinbar wie beiläufig von sich gegeben hatte: »… und nun du.« Hatte sie da schon die Absicht gehabt, sich zu erhängen? In der Hoffnung, ich würde ihr nachfolgen, gar ihren Posten übernehmen? Selbstmord ist eine der schlimmsten Sünden! Wenn die Äbtissin für sich nur diesen Weg sah und damit ihren Eintritt in den Himmel unmöglich machte: Wie groß muss ihre Furcht gewesen sein?

Die Nonne schüttelte diese Gedanken wie lästige Fliegen von sich, und glaubte beinahe sehen zu können, wie diese wie dunkle Geister davonflogen. Mit plötzlich eiligeren Schritten strebte sie die Reihe entlang, versuchte, die Namen zu entziffern, darunter einen ihr bekannten zu entdecken, und erreichte schließlich das Ende des Ganges. Den Namen auf der letzten Steinplatte hatte sie nicht mehr zu lesen vermocht. Erst dachte sie an Verwitterung, aber dann verwarf sie diese einfache Erklärung.

Hier unten kann nichts verwittern. Weder Regen noch Eis, weder Wind noch Sand können hier den Stein abtragen. Mit einem heftigen Ruck schwang sie das Licht der Fackel genau über die Stelle, an der sich Reste einer einstigen Inschrift mehr erahnen als lesen ließen. Mit Hammer und Meißel abgeschlagen, erklärte sie sich den Zustand der Überbleibsel. Erst mit dem zweiten Blick sah sie eine Darstellung, die sie sofort identifizieren konnte: Eine Tiara!

Das beschädigte, aber noch gut erkennbare Relief einer päpstlichen Kopfbedeckung wollte aber so gar nicht in die bisherige Reihe von Särgen für weibliche Gottesdienerinnen passen. War das der vergessene Papst, den die Äbtissin erwähnt hatte?

Unmöglich! Päpste werden nur in Rom bestattet!

Entweder war die innere Stärke der Nonne durch ihr mutiges Voranschreiten mittlerweile gewachsen oder sie hatte sich – ohne es zu bemerken – an die beständige Last gewöhnt, welche wie ein überdimensionales Joch auf ihre Schultern drückte. Denn jetzt, als sie vor dem vermeintlichen Sarg eines Papstes stand, überflutete sie eine schwarze Woge so überraschend und heftig, als würden Massen von tonnenschwerem Sand sie zu ersticken drohen. Sie japste nach Luft, umklammerte die Fackel krampfhaft in der Befürchtung, diese könne durch die unsichtbare Flut erlöschen. Sie wankte wie bei einem Erdbeben und suchte verzweifelt nach Halt.

Sie fand ihn.

Für einen kurzen Moment.

Dann stieß ihre tastende Hand an den Deckel des Sarges … und schob ihn mit Leichtigkeit ein Stück zur Seite! Anstatt sich stabilisieren zu können, stürzte die Nonne zu Boden. Ihr Gesicht schrammte am Stein entlang, fügte ihr ein Dutzend blutiger Striemen zu. Die Fackel entfiel ihrem Griff und wäre beinahe erloschen, hätte sie sie im letzten Augenblick nicht wieder packen können. Noch im Liegen stieß sie die Fackel in die Luft, so als müsse sie wie ein Ritter einem Drachen ein eigenes Feuer entgegenschleudern.

Doch da war kein Drache.

Anstelle eines Untieres erhob sich ein Schemen aus dem Sarg, schwebte trotz des flackernden Lichtes grau und unstet für einen Moment über dem halb offenen Grab … und wandte sich dann zu ihr um.

Die Nonne musterte das Gesicht, das sich hart und mit unbarmherzigem Ausdruck über sie beugte. Das ist … war kein Papst! Sie hatte während ihres Noviziats und auch danach die Geschichte des Papsttums studiert und eine Sammlung von Bildnissen einsehen dürfen, welche alle Päpste bis zum heutigen Tag beinhaltet hatte. Und dieses Gesicht war nicht darunter gewesen! Im Zuge dieser Studien hatte sie auch das Wirken oder Unwesen der meisten römischen Kaiser erlernen können. Vor allem derjenigen, welche die frühen Christen gnadenlos verfolgt hatten.

Das Gesicht über ihr gehörte zu einem dieser Kaiser.

Und sie kannte es.

Sie spie förmlich seinen Namen wie giftigen Schleim aus: »Diokletian … der illyrische Mörder.« Sie erhob sich und wich keinen Schritt vor dem Schemen zurück, der sie stumm musterte, so als wolle er sich zunächst ihrer Absichten … und Möglichkeiten versichern.

Und wenn die Zeit gekommen ist, wirst du wissen, was du damit zu machen hast, klangen die Worte der Äbtissin in ihr auf. Von der Nonne fiel ohne äußerliche Zeichen die Last ab, die sie seit Monaten gespürt und sie auf ihrem Weg hier hinunter ergriffen hatte. Jetzt fühlte sie nur Stärke in sich wachsen. Mit jedem Atemzug, den sie tat, spürte sie ein goldenes Licht sie erfüllen, als wäre Gottes Sohn schon heute auf die Erde zurückgekehrt und würde das Letzte Gericht abhalten.

Mit kraftvoller Stimme schleuderte sie dem Dämon ihre Anklage entgegen:

»Von der kaiserlichen Leibgarde, zu deren Befehlshaber, selbst auf den Imperatoren-Thron hast du es geschafft. Eine Karriere, begründet auf Intrige, Verrat und Mord. Der Jubel über deine Berufung zum Imperator war kaum verklungen, als du deinen Rivalen Aper eigenhändig erschlagen hast! Ich hegte schon immer den Verdacht, dass du auch deinen Vorgänger Numerian umgebracht hast. Und nur ein Jahr später dessen Bruder Carinus, dem legitimen Kaiser. Doch all dies war dir noch nicht genug. Du hast, wie kein anderer Kaiser vor dir, Christen verfolgen und töten lassen. Aber jetzt, in dieser Stunde, hast du die letzte Sprosse deiner Karriereleiter erreicht … Dämon!«

Diokletians Kopf ruckte nach oben und Arroganz sprühte aus den Augen, die in dunklen Höhlen ruhten. »Soldat … Imperator … Dämon.« Das letzte Wort hatte er in einer abfälligen Länge ausgesprochen. »Alles nur Schall und Rauch. Irdische Titel.«

Dann grinste er breit und deutete unter sich.

»Unter diesen Steinen ruhen die mickrigen Reste Tausender Christen. Eine halbe Legion einst ruhmreicher römischer Legionäre. Ich habe sie genau hier, an der Stelle ihres einstigen Feldlagers, abschlachten lassen. Sie hatten den Glauben an die alten Götter Roms aufgegeben und sich dem Christengott zugewandt. Wie schwach der war, hat die Welt gesehen, als wir Römer seinen Sohn töteten. Und wie schwach er noch heute ist, kannst du an diesen Särgen sehen. In ihnen modern die Knochen erfolgloser Weiber, die versucht haben, mich einzusperren. Dabei haben gerade sie mich am Leben erhalten, genährt durch ihre Furcht und beständiges Erinnern. Hätten sie mich einfach vergessen, wäre ich nur ein flüchtiger Windstoß im Sturm der Zeiten.« Ein hämisches Lachen entfuhr seinem Mund. »Und du, Nonne, lieferst mir nun die letzte Seele, die ich brauche, um wieder auferstehen zu können. Nämlich deine

Der Dämon konnte nicht ahnen, dass all die verstorbenen Nonnen und Äbtissinnen ihr Leben geopfert hatten, um den Behälter über Generationen hinweg zu füllen, der nun von ihrer Schwester behütet wurde.

»Ich habe nicht vor, dich einzusperren, Diokletian«, sagte die Nonne mit unerwarteter Ruhe. »Meine Absichten sind endgültigerer Natur.« Sprach es, holte den Flakon aus den Tiefen ihres Gewandes hervor und schleuderte ihn gezielt in den offenen Sarg, aus dem der Dämon hervorgekrochen war.

»Du glaubst doch nicht im Ernst, dass du mich mit ein wenig geweihtem Wasser bekämpfen kannst?«

»Nein, tue ich nicht«, stieß die Nonne hervor und hielt in einer Hand die Fackel. Mit der Zweiten umklammerte sie ein kleines goldenes Kreuz. »Ich werde dich nicht richten. Das hast du längst selbst getan. Sieh, deine Henker sind schon da.«

Sie hatte die Hand mit der Fackel ein wenig nach vorn gestreckt, um ihm zu zeigen, dass sich in seinem Sarg etwas ankündigte … und um von sich abzulenken! Sie wusste jetzt, dass sie immer noch verletzbar war, es ihm ein Leichtes gewesen wäre, sie augenblicklich zu töten. Doch ihre Geste wäre nicht nötig gewesen. Der Dämon starrte auf den Sarg, in dem ein gelbes Schimmern erschienen war und sich von Herzschlag zu Herzschlag verstärkte. Diokletian wich ein wenig zurück, schien aber zu einem höhnischen Lachen ansetzen zu wollen, da er seinen Mund weit geöffnet hatte. Anstelle diabolischen Gelächters endete sein Bemühen aber in einem erstickten Laut, als er sah, wie sich erste Gestalten in Form silbern schimmernder Männer daraus erhoben. Selbst die Nonne erkannte auf Anhieb die typischen Uniformen römischer Legionäre. Hauchdünne Schleier aus transparentem Licht, dennoch in einer erdrückenden Menge, die beide – Dämon und Nonne – fühlen konnten. Sie wurde durchdrungen von tausendfacher Liebe, er konfrontiert mit göttlichem Zorn. So wie sich ihr Körper stählte, eine Rüstung aus Freude und Licht erhielt, so vernichtend schlugen die gleichen Mächte auf den Dämon ein, rächten seine Grausamkeit und fegten seinen Geistkörper auseinander, wie ein Orkan das Husten einer Mücke. Diokletians verdorbene Seele zerstob in winzige Partikel, fielen kaum sichtbar nieder und verschwanden, bevor sie auf den Boden sinken konnten.

 

Die Nonne stand lange Zeit wie benommen da. Konnte kaum fassen, dass ausgerechnet sie es gewesen war, welche die Schreckenszeit des Klosters endlich beendet hatte.

Nur mithilfe all meiner Schwestern im Glauben.

Eine tiefe Seligkeit durchströmte ihr Herz, ihre Adern, ihren ganzen Körper.

Ich werde aus diesem finsteren Ort eine Stätte des Lichts machen.

Ein neues Kloster errichten, darin wirken und lehren.

Ich schwöre es bei Gott.

Ich, Hildegard.

 Ende

 Copyright © 2018 by Werner Karl

Zurück auf Anfang

(Lesezeit ca. 9 Min.)

Das Wesen betrachtete die uralte Galaxie mit einiger Aufmerksamkeit. Von seiner Beobachtungsposition aus wirkte die Sternansammlung wie ein Rad aus rund einem Dutzend zerfaserter Spiralarme, welche den finsteren Kern in rasendem Wirbel umkreisten. Es hatte diesen Anblick schon unzählige Male gesehen, in verschiedensten Formen: als Oval, als verrissenen Kreis, als hohle Kugel, als flache Linse und einer weiteren unglaublichen Vielzahl von deformierten Körpern. Deformiert deshalb, weil ihnen allen ein ausschlaggebendes Merkmal gemein war: Der Kern, ansonsten ein hell strahlendes Zentrum dicht beieinanderstehender Sterne, war schwarz. Der Grund dafür lag in der banalen Tatsache, dass diese Galaxien von einem Schwarzen Loch von innen aufgefressen wurden, wie eine biologische Lebensform von einem Parasiten.

Das Wesen, das unfreiwillig Tausende von Namen trug, welche ihm viele natürliche Lebewesen verliehen hatten, sich selbst aber immer nur mit einem Begriff identifizierte, seufzte innerlich und schwebte einige Lichtjahre näher an die todgeweihte Welteninsel heran.

Und wieder wird man mir die Schuld an der Vernichtung geben.

Frustriert hielt es inne und nahm die lautlosen Zerstörungsgeräusche wahr, mit dem Sonnen und Planeten, Monde und Asteroiden, ja ganze Sternsysteme zu Myriaden, wie unter Schmerzen brüllend, in den scheinbar unersättlichen Schlund hineinstürzten. Unglaubliche Massen an Material und ungezählte Leben wurden von den gigantischen Kräften zermalmt, zu atomarem Staub zermahlen und verschwanden aus dem sichtbaren Universum.

Doch nichts geht verloren im All, dachte es zufrieden. Weder in der Vergangenheit, weder in der Gegenwart noch irgendwann in der Zukunft. Ja, es kannte diese Begriffe, auch wenn es aufgrund seines eigenen Alters, das nach Äonen maß, sie als belanglos betrachtete.

Es schwebte soweit an das Schauspiel heran, dass es das ganze Szenario wahrnehmen konnte. Trotzdem war es immer noch Millionen von Lichtjahren entfernt. Es spürte mit allen seinen Sinnen die Macht des Schwarzen Loches, das wuchs und wuchs, zerrte und fraß, immer mehr, immer schneller. Zum Ende hin würde die Geschwindigkeit, mit der es fraß, in wahnwitzige Raserei münden.

Es war schon immer so und nie wird es anders sein.

Zum milliardsten Male fragte es sich, wie lange es wohl selbst existieren würde. Wie viele dieser Dramen würde es noch miterleben, bis es seinen eigenen Tod erlitt? Dabei war es dem Wesen überhaupt nicht klar, ob es überhaupt sterben konnte. War es nicht selbst ein elementarer Bestandteil des Universums? Wer würde seine Aufgabe übernehmen, wenn es nicht mehr lebte? Traf der Begriff Leben auf das, was es war, überhaupt zu? Und wer oder was würde die unendliche Aufgabe übernehmen – und erfüllen! – wenn es selbst … starb?

Sein scharfer Blick sah jedes Detail, jedes Staubkorn, das im Schlund des Schwarzen Loches starb.

Wenn ich dort hingehe, kann ich dann sterben? Will ich … sterben?

Im gleichen Augenblick verneinte es seine eigene Frage. Auch wenn es momentan keinen physikalischen Körper hatte – den es jederzeit und in jeder Form annehmen konnte –, so schob es mit aller Vehemenz den Gedanken an ein endgültiges Ende von sich.

Es ist meine Aufgabe!, dachte es mit heftiger Intensität und spürte die eigenen Kräfte, welche die Macht des Schwarzen Loches vor ihm um ein Vielfaches überragten. Und wie immer folgte unausweichlich die drängende Frage.

Von wem habe ich diese Aufgabe übertragen bekommen? Wer oder was steht über mir, dass es MIR einen solchen Auftrag erteilen kann? Es konnte sich nicht mehr an das erste Mal erinnern, an dem es seine Aufgabe erfüllt hatte. Das Wesen konnte sich auch nicht erinnern, wie es wusste, was es zu tun hatte und wie es den Auftrag bewältigen sollte.

ICH KANN ES! Das genügt.

Die ohnehin schon arg dezimierten Arme der Spiralgalaxie verloren rapide an Masse. Das Loch schlang mit zunehmendem Appetit alles in sich hinein. Und dabei steigerte sich seine Gier in potenziellem Maße, sodass es immer rascher Materie einsaugte.

Es dauert nicht mehr lange …

Für einen Zeitraum, den eine biologische Existenz als eine ganze Lebensspanne bezeichnet hätte, sinnierte das Wesen darüber nach, ob es seine Aufgabe irgendwann einmal als langweilig empfinden könnte. Doch sogleich verwarf es heftig diese Anwandlung.

Ohne mich gibt es kein Leben! Und Leben zu erschaffen, in all seiner Vielfalt, Außergewöhnlichkeit, Extremität, Normalität, Exklusivität, ist die edelste Aufgabe, die ich mir vorstellen kann.

Für eine weitere unbestimmte Strecke des Zeitstroms dachte es darüber nach, dass es in Wahrheit all diese Varianten des Lebens nicht bewusst formte, sondern es sich aus dem … Angebot definierte, welches schon vorher existiert hatte. Nur die Kombination des Materials wurde wieder und wieder, bis in alle Ewigkeiten, neu zusammengesetzt. Und das seit Äonen ohne einzige Wiederholung! Jeder Neuanfang war eine Premiere, jeder Akt eine Novität. Ja, es hatte Ähnlichkeiten gegeben. Immer. Wenn die Voraussetzungen ähnlich waren, lag das auf der Hand. Doch immer hatte es auch Unterschiede gegeben und würde es weiterhin geben. Der Einfallsreichtum der Natur war unendlich. Das Wesen konnte das aus Erfahrung nur bestätigen. In all den Epochen, die es durchlebt hatte, hatte es noch niemals Lebensformen entdeckt, die absolut identisch waren.

Es unterbrach seine Gedanken und nahm befriedigt zur Kenntnis, dass die Ausmaße des Schwarzen Loches nun mehr als die Hälfte der ursprünglichen Größe der Galaxie erreicht hatten, das Weltall dahinter wie ein unendlich großes, ausgestanztes Loch wirkte. Die ehemals elegant geformten Spiralarme waren jetzt nicht mehr als zerfetzte, nur noch aus kümmerlichen Fasern bestehende Schwaden. Doch trotzdem waren dies noch Millionen von Himmelskörper, die sich wie die Lemminge in den tödlichen Ozean stürzten. Das Tempo der Vernichtung hatte nun Dimensionen angenommen, die völlig ausschlossen, dass auf den Planeten noch irgendetwas am Leben sein konnte.

Geduld … der Neubeginn wird kommen … nur Geduld.

Es empfand ehrliches Mitleid mit all den Leben, die vor seinen nicht existenten Augen zugrunde gegangen war.

Im Gegensatz zu IHM kümmere ich mich um das Leben! ER spielt nur herum und lässt es dann im Stich. ICH NICHT!

Das Ende kündigte sich an. Selbst seine Wahrnehmung nahm nun die irrwitzig in den Untergang stürmenden Objekte nur noch als farblich verschobene Striche wahr. Selbstverständlich konnte das Wesen auf mannigfache Art seine Betrachtungsweise wählen, und es wäre ihm ein Leichtes gewesen, auf Normalsicht zu wechseln. Doch immer wieder war es fasziniert vom Akt des Desasters, in dem schon jetzt der Keim des Anfangs schlummerte.

Jetzt geht es zu Ende …

Mit einem finalen zigtausendfachen Aufblitzen verschwanden die allerletzten Reste der einst gewaltigen Sternoase aus dem All. Für eine Zeitspanne, die selbst für das Wesen einen Lidschlag bedeuteten, blieb der Weltraum an dieser Stelle schwarz. Ein Schwarz, das eine Tiefe erreicht hatte, die es unwirklich, bedrohlich, beängstigend erscheinen ließ. Zumindest für Lebewesen, welche die Chance gehabt hätten, das kosmische Ereignis zu beobachten.

Es mag welche geben, in anderen Galaxien. Wenn ihre Technik schon so weit fortgeschritten ist. Doch die Lebewesen, die jetzt – in diesem Augenblick – existieren, werden dieses Spektakel niemals sehen können. Das Licht braucht seine Zeit. Und erst ihre entfernten Nachkommen wird das Licht erreichen. Werden sie es verstehen?

Das Wesen, das sich selbst als Luzifer bezeichnete, als Lichtbringer, machte sich bereit.

Dann sprach es die heiligen Worte.

„Es werde Licht!“

 

Copyright © 2010 by Werner Karl